Am 27. März 1964 druckte die New York Times einen der schockierendsten Artikel in ihrer 155-jährigen Geschichte. Er begann mit dem Satz: "Mehr als eine halbe Stunde lang schauten 38 achtbare, gesetzestreue Bürger in Queens zu, wie ein Mörder eine Frau in Kew Gardens belästigte und auf sie einstach." Die Frau hieß Kitty Genovese. Sie war 28 Jahre alt und starb in dieser Nacht.
Es war nicht so sehr ihr Tod, der die Leserinnen und Leser erschütterte - dafür kamen solche Verbrechen in New York zu häufig vor -, es war die Reaktion der Nachbarn. Laut dem Zeitungsbericht hatte die Frau wiederholt um Hilfe gerufen, doch hatte keiner der Bewohner, die aus den Fenstern blickten, während des Angriffs die Polizei alarmiert.
Nach den Gründen für die Passivität befragt, gab einer später an: "Ich wollte da nicht hineingezogen werden." Während die Medien die 38 Zeugen kollektiv als unbarmherzige Charakterlumpen darstellten und die Politiker den moralischen Zerfall der amerikanischen Gesellschaft beklagten, trafen sich zwei junge Psychologen in New York zu einem Abendessen. John Darley und Bibb Latané unterhielten sich fast den ganzen Abend über den Fall Kitty Genovese. "Wir betrachteten die Reaktion der Zeugen aus dem Blickwinkel der Sozialpsychologie. Nicht wie die Zeitungen, die sie als Monster abstempelten", erinnert sich Darley.
Die beiden konnten nicht glauben, dass alle Zeugen überdurchschnittlich schlechte Menschen waren. Dagegen sprach schon ihre große Zahl: 38! Als Sozialpsychologen misstrauten Darley und Latané grundsätzlich allen Erklärungen, welche die abnorme Persönlichkeit Einzelner für das Verhalten einer Gruppe verantwortlich machten. Vielmehr überlegten Darley und Latané, mit welchen ganz normalen Gruppenprozessen sich die Ereignisse jener Nacht erklären ließen. Sie stießen auf zwei Möglichkeiten:
Die Diffusion von Verantwortung: Je mehr andere Leute zugegen sind, desto weniger fühle ich mich in der Verantwortung zu helfen.
Das Definitionsproblem: Wenn die anderen nicht helfen, die vielleicht mehr wissen als ich, wird es sich wohl nicht um einen Notfall handeln.
Doch wie ließen sich diese Hypothesen prüfen? An diesem Abend begannen Darley und Latané mit der Planung dessen, was sich später als die berühmtesten Experimente ihrer Karriere erweisen sollte. John Darley ist darüber heute etwas unglücklich: "Kein Forscher ist gerne für etwas bekannt, was er vor langer Zeit vollbracht hat."
Um herauszufinden, ob es den Diffusionseffekt wirklich gab, galt es eine Situation zu schaffen, in der dieser nicht vom Definitionsproblem überlagert wurde: weil die Forscher andernfalls nie herausfänden, welcher der beiden Effekte wie viel zur Passivität der Zeugen beitrug. Wie beim Mord an Kitty Genovese mussten Darley und Latané eine Notfallsituation kreieren, in der die Leute zwar wussten, dass andere Leute zugegen waren, in der sie aber deren Reaktion nicht beobachten konnten. Die Zeugen des Mordes konnten ja nicht wissen, ob einer der anderen Zeugen, die am Fenster standen, bereits etwas unternommen hatte.
Die Lösung war wohl durchdacht: Wenn eine Versuchsperson ins Labor kam, fand sie einen langen Gang vor, von dem mehrere Kabinen abgingen. Der Versuchsleiter begleitete sie in eine davon, forderte sie auf, einen Kopfhörer mit Mikrofon anzulegen. Über den Kopfhörer erklärte er ihr dann, dass sie an einer Gruppendiskussion über Probleme des Studentenlebens teilnehme. Weil es vielen Leuten leichter falle, offen zu reden, wenn sie einander nicht sähen, säßen die anderen Gesprächsteilnehmer - über Kopfhörer und Mikrofon mit ihr verbunden - in Nachbarkabinen.
In Wirklichkeit verhinderte die Isolation, dass sie sehen konnte, wie die anderen Gesprächsteilnehmer auf den nachfolgenden Notfall reagierten. Der Versuchsleiter erklärte nun, er selbst werde der Diskussion nicht zuhören, da sich das als gesprächshemmend erweisen könnte. Der Gesprächsverlauf werde von einem automatischen Schalter gesteuert. Alle Diskussionsteilnehmer hätten der Reihe nach zuerst zwei Minuten Zeit, um über ihre Probleme zu sprechen. Danach bekämen sie noch einmal je zwei Minuten, um das Gehörte zu kommentieren. Während einer sprach, seien die Mikrofone aller anderen ausgeschaltet.
Was die Versuchsperson nicht wusste: Alle Stimmen kamen vom Band. Die erste gehörte einem jungen Mann, der von den Schwierigkeiten erzählte, sich an das Leben in New York zu gewöhnen. Er erwähnte auch, dass er epileptische Anfälle hatte, wenn er unter Stress geriet. Es folgten Gesprächspartner (vom Band) und am Schluss der Versuchsteilnehmer.
In der zweiten Runde begann die erste Stimme zu stammeln: "Ich ... äh ... um ... ich glaube, ich ... ich brauche ... äh ... äh ... jemanden äh ... äh ... äh ... äh ... äh ... äh ... äh." Nach etwa 70 Sekunden war klar, dass der Student einen epileptischen Anfall hatte: "K... könnte jemand ... äh ... äh ... mir ... eh ... helfen [hustet]? Ich ... sterbe."
Der Versuchsleiter stoppte die Zeit, welche die Versuchsperson vom Beginn des Gestammels an brauchte, bis sie ihre Kabine verließ, um zu helfen. Die Resultate waren erstaunlich klar: Von den Versuchspersonen, denen man gesagt hatte, sie führten ein Zweiergespräch (mit dem Opfer des epileptischen Anfalls), eilten 85 Prozent zu Hilfe - nach durchschnittlich 52 Sekunden. Wenn man die Versuchspersonen glauben ließ, es gebe einen weiteren Gesprächspartner, reagierten bloß noch 62 Prozent - nach durchschnittlich 93 Sekunden. Bei sechs Gesprächsteilnehmern schließlich kamen gerade mal 31 Prozent aus ihren Kabinen - nach über zwei Minuten.
Tatsächlich scheint die Verantwortung in Notfällen umso stärker zu diffundieren, je mehr Leute zugegen sind. Die Situation ist paradox: Ein Opfer sollte nicht darauf hoffen, dass möglichst viele Leute seinen Unfall beobachten, sondern möglichst wenige - am besten nur eine einzige Person.
Es war also ironischerweise ausgerechnet die große Zahl der Zeugen, die beim Mord an Kitty Genovese verhinderte, dass sie Hilfe erhielt. Hätte ihre Rufe nur ein Nachbar gehört, wäre sie vielleicht noch am Leben. Oder doch nicht? Mehr als vierzig Jahre nach dem Artikel in der New York Times stellte sich nämlich heraus, dass es der Reporter mit der Schilderung der Ereignisse nicht besonders genau genommen hatte.
Der Anwalt Joseph De May, der in seiner Freizeit die Fakten einer akribischen Prüfung unterzog, kam zu dem Ergebnis, dass vieles von dem, was der Journalist geschrieben hatte, nicht stimmte: Zum Beispiel hatten die meisten der 38 Augenzeugen gar nichts gesehen, manche hatten zwar etwas gehört, dieses aber für den lautstarken Streit eines Paares gehalten.
Auch konnte der Großteil des Angriffs von den Fenstern aus gar nicht beobachtet werden, weil er auf der anderen Seite des Hauses stattfand. Und überdies hatte sogar einer der Zeugen die Polizei alarmiert. Eines der bedeutendsten Experimente der Sozialpsychologie hat seinen Ursprung in einem zu dick aufgetragenen Artikel der New York Times.
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Das ändert allerdings nichts an den beeindruckenden Resultaten. Auch die zweite Hypothese, das Definitionsproblem, konnten Darley und Latané klar belegen. Dazu ließen sie Versuchspersonen einen Fragebogen ausfüllen - in einem Raum, aus dessen Belüftung plötzlich dicker Rauch quoll. Waren die Versuchspersonen allein, meldeten drei Viertel von ihnen den Rauch innerhalb von zwei Minuten. Waren die Versuchspersonen zu dritt, alarmierten nur noch 13 Prozent sofort den Versuchsleiter.
Einige blieben selbst dann noch ruhig sitzen, als der ganze Raum mit Rauch gefüllt war und sie den Fragebogen kaum noch sehen konnten. Offenbar dachte jeder: Wenn der andere den Rauch nicht als Notfall definiert, wird es wohl keiner sein - ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass ein Notfall nie als solcher erkannt wird, wenn alle so denken.
Was kann man gegen diese lähmende Eigenschaft der menschlichen Natur tun? "Einem Opfer kann man nur empfehlen, eine einzelne Person aus einer Gruppe um Hilfe zu bitten, weil so die Diffusion der Verantwortung aufgebrochen wird", sagt Darley. Bei Rettungsschwimmern in den USA wird das Definitionsproblem in der Ausbildung behandelt. Ein Lebensretter darf sich nie an den Reaktionen anderer Leute orientieren, um herauszufinden, ob der Schwimmer da draußen wirklich in Schwierigkeiten ist oder nur herumplanscht.
Einen Weg, die Leute zum Eingreifen zu bewegen, haben Sie eben selbst beschritten, indem Sie diesen Abschnitt lasen: Versuchspersonen, die das Experiment von Darley und Latané kannten, halfen in einem Notfall fast doppelt so häufig wie die anderen.
Quelle: hda